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Abdulmesih und der liebe Gott – eine wahre Geschichte von Fremde und Heimat

Leseprobe

Kapitel 1

Das Land ist groß, weit und alt.

Vom Turm der Kirche aus geht der Blick wie in eine lange Vergangenheit, berührt die Dächer der sich türmenden sandfarbenen Häuser, wandert die hellgrauen Gassen entlang bis hinaus vor die Stadt und verliert sich in den sanften Wellen des Tur Abdin. So kann man in der milden, klaren Luft für Ewigkeiten stehen und schauen, ruhig und wartend, nicht verloren oder ratlos. Dieses große, alte Land trägt und hält die Menschen seit unvordenklichen Zeiten, seit den Zeiten der Akkadier, der Assyrer, der Perser, der Aramäer, der Römer, der Osmanen. Dieses Land, das sich im äußersten Norden des Zweistromlandes dem Himmel entgegenhebt, ruht, als hätte es schon Weltuntergänge überstanden. Es hat Menschen eingeladen und ausgeschickt, willkommen geheißen und verabschiedet. Seit vielen tausend Jahren leert und füllt es sich immer wieder mit Menschenleben, leert und füllt sich, ein zeitlos schlagendes Herz im Südosten der Türkei.

Auf dem Kirchturm in seiner Heimatstadt Midyat steht und schaut Abdulmesih. Es ist eine syrisch-orthodoxe Kirche, und Abdulmesih ist trotz seinem arabischen Namen kein Moslem, sondern Christ.

Wenn er die Augen ein wenig zusammenkneift und nach Osten schaut, wo in der Frühe die Sonne aufgeht und wohin sich die Christgläubigen beim Gottesdienst wenden, dann glaubt er zu erkennen, woher er kommt und was ihn zu dem Menschen gemacht hat, der hier steht. Doch im Westen türmt sich groß und dunkel etwas ganz Unbekanntes vor ihm auf, ein fernes, fremdes Land. Er fürchtet dieses Kommende nicht, aber er liebt es auch nicht, und wenn es nach ihm ginge, käme etwas anderes. Aber das Leben liegt nicht ganz in des Menschen Hand, nur was er daraus macht, nicht die Bedingungen. Abdulmesih ist entschlossen, etwas daraus zu machen, komme, was da wolle, und wo auch immer das sein mag.